Bloß spielen. Die „Aktmultiples“ von Markus Reck

Markus Rath

 

Als „Aktmultiples“ bezeichnet der Fotokünstler Markus Reck (*1976) eine Werkgruppe, in welcher das Aktmodell in facettenreicher Variation mehrfach im Bild erscheint - es wird von ihm multipliziert inszeniert. Bei jenen durch computergenerierte Montage erzeugten Bildern werden verschiedene Ansichten einer Person in einem kontinuierlichen Bildraum derart miteinander kombiniert, dass aus einem Einzelmodell eine Menschenmenge entsteht. Neben dem Effekt der körperlichen Multiplikation steht jener der zeitlichen Division: Scheinbar unzählige, asynchrone Momente vollziehen sich in einem einzigen Augenblick.

Die Modelle Markus Recks können als Bildraum gleichermaßen Innenräume oder Außenräume, einen Kirchensaal, eine Industrieanlage oder Naturschauplätze ‚bespielen’, wie etwa im „Aktmultiple XII“: In einer urzeitlichen, von monumentalen Findlingen durchsetzten Flusslandschaft tummeln sich über sechzig nackte junge Frauen. Sie sitzen, stehen, schwimmen, oder stützen sich auf und ab, sie liegen und laufen, knien, klettern, kauern, hocken, hüpfen, hasten. Verschiedenste Bewegungszustände, zwischen Sinnen und Springen, zeigen sechsundzwanzig nackte Männer in einem humiden locus amoenus unterhalb eines Wasserfalls im „Aktmultiple XIII“, einer mystisch anmutenden Naturszenerie. In ihren dynamischen Körperbewegungen ins energiegeladene Tänzerische gesteigert erscheinen die gleichgestaltigen Frauen im „Aktmultiple X“, verortet vor und auf einem riesenhaften Sandhügel, gleich Ayers Rock in einer Mondlandschaft.

Alle Figuren einer jeweiligen Arbeit sind ein und dasselbe Modell. Zu einem artifiziellen Moment gebannt bezeugen die Bilder die Varianz menschlicher Handlungsmöglichkeiten in einem Augenblick. Das spielerische Agieren der Akte im Bild führt zur Eroberung des Bildraums durch das Modell, der nackte Mensch zeigt sich im Welterfahren als raumkonstituierender homo ludens.

Weniger dynamisch als die Körperrepräsentationen der Außenräume zeigen sich die Modelle in den Fotografien, die in einem Innenraum inszeniert sind. Im symmetrisch komponierten „Aktmultiple V“ tritt das weibliche Modell durch eine Glastür in eine lichte Saalkirche ein, bevölkert posierend Bankreihen und Empore und schreitet im Mittelgang, mit dem Rücken zum Betrachter, wieder in Richtung Eingang. Eine universitäre Vorlesungssituation evoziert die Arbeit „Aktmultiple VIII“, in welcher nun zwei weibliche Aktmodelle, ein Paar als pars pro toto, die Plätze eines vollbesetzten Hörsaals einnehmen. Hier tragen weniger die dynamischen Körperhaltungen - alle Figuren sind auf das uneinsehbare „Vorlesungsgeschehen“ auf der unteren Raumebene rechts außerhalb des Bildrands ausgerichtet - als vielmehr Mimik, Gestik und gemeinsames Interagieren zur stimmigen, pluralen Figurenauffassung bei.

 

Recks Bilder, welche sich in die lange Tradition der Aktfotografie einreihen, offenbaren sich als humorvolle und neuartige Auseinandersetzung mit der menschlichen Nacktheit. Eingebunden in Naturszenen (Flusslandschaft, Wasserfall, Sandberg) gewinnt der Status des vervielfältigten, unbekleideten Modells, insbesondere durch dessen rein körperliche Umwelteroberung, paradiesische Züge - eine Harmonie zwischen Mensch und Natur im Sinne eines ‚goldenen Zeitalters’. Ironisch gebrochen wird dieser Eindruck, wenn Recks Akte moderne Maschinenanlagen (Förderturm im „Aktmultiple IX“) oder mit verschiedenen gesellschaftlichen Systembereichen konnotierte Innenräume (Hörsaal, Kirche) erobern. Einer ‚natürlichen’ Umgebung enthoben, erscheint die multiple Blöße dann als gesteigerte Provokation, löst den Impuls aus, die Bilder als bildgewordene erotische Phantasien zu lesen. Dabei wird der mit dem nackten Körper verbundene dichotomische Impetus von Erotik und Scham jedoch durch den Multiplizierungsprozess modifiziert: Zwar wird das voyeuristische Sehen animiert, es zielt jedoch nicht primär auf das Nackte, sondern gleichermaßen auf das vervielfältigte Modell, welches durch seinen unbeschwert-natürlichen Ausdruck ohne Scheu ein unbezwingbares Spiel auslöst zwischen Betrachterbezug, Individualität und Nähe auf der einen, und Unbeobachtetsein, Anonymität und Distanz auf der anderen Seite.

 

So stellt sich die Frage nach der mimetischen und performativen ‚Natur’ der Bilder, der Selbstdarstellung des Modells und der digitalen Bildkomposition durch den Künstler. Hier ist der Bildentstehungsprozess der „Aktmultiples“ von Bedeutung, der in drei Phasen aufgeteilt werden kann: In einer ersten Phase wählt der Fotograf die Szenerie, die „Bühne“, welche eine expansive und dennoch als räumliche Einheit erfahrbare (Selbst-)Inszenierung des Modells erlaubt. Mit dem Schauplatz wählt Markus Reck das Spielfeld. Die zweite Phase besteht im Bannen der Einzelaufnahmen des Modells. In dieser Zeitspanne erhält die fotografierte Person volle Autorität, der Künstler beeinflusst in keiner Weise Bewegungsreihen und Körperhaltungen sondern erfasst jene ungefiltert in schneller Bilderfolge. Hierbei entsteht das große Korpus der Ausgangsbilder, die Materialsammlung der anschließenden kreativen Komposition. Die letzte und längste Phase stellt das Zusammenfügen der Einzelelemente im Raum und mithin die Erzeugung der Endversion des „Aktmultiples“ dar. Bei gleichbleibendem szenischen Hintergrund werden aus dem umfangreichen Fundus der zweiten Phase Einzelfigurationen ausgewählt und am Computer zu einem einheitlichen, figurenreichen Gesamtbild montiert.

 

Das Verfahren, aufeinander folgende Handlungen in einem kohärenten Raum gleichzeitig zu inszenieren, findet in der Kunstgeschichte ein frühes Pendant in der narrativen Bildform der Simultanbilder des Mittelalters und der Frühen Neuzeit.1 In jenen Bildern ist jedoch die mehrfach auftretende Figur in temporärer Abfolge nebeneinander und nicht sich selbst überlagernd oder gar interagierend dargestellt, wie dies teilweise bei den Figuren der „Aktmultiples“ der Fall ist. Auch in der zeitgenössischen Kunst, insbesondere in der Fotografie, ist eine Auseinandersetzung mit dem vervielfachten (nackten) Körper, als variable motivische Einheit, und insbesondere die duplizierende Vervielfältigung der Einzelperson zu einem Figurenensemble, in vielschichtiger Weise und in verschiedenen Auffassungen anzutreffen.2

 

In ihren Aktionen, aus welchen Videos und Fotoarbeiten resultieren, erschafft die Künstlerin Vanessa Beecroft eine Sphäre zwischen Performance und Bild.3 Jene dreidimensionalen Arrangements gleichgestaltiger realer Personen, deren Äußeres sich durch Kleidung, Perücken, Accessoires, Nacktheit etc. annähernd gleicht, gerinnen durch ihren Charakter eines tableau vivant zum Bild. Im Gegensatz zur Arbeitsweise Recks sind Beecrofts Modelle dabei an genaue Anweisungen gebunden, Haltung, Ausdruck und Gestik sind vorgegeben, in jeder Phase der Bildgenerierung scheint eine absolute Kontrolle vorzuherrschen.4 Die Reckschen Modelle hingegen können, ja sollen selbstbestimmt agieren - erst durch ihr freiheitliches Bewegen erhält der Fotograf vitale Körperausdrücke. Auch Spencer Tunick wählt den nackten menschlichen Körper als kleinste Einheit und als Ausgangsmotiv seiner gigantischen Installationen mit bis zu 8 000 Menschen.5 Die unbekleideten Statisten werden von ihm im öffentlichen Raum zu einem überdimensionalen Gesamtkörper angeordnet.6 Wie Vanessa Beecroft arrangiert Spencer Tunick die nackten Körper demnach in einer realistischen Ausgangssituation vor Ort, um jene Installationen zu filmen und zu fotografieren. Anders als die von nur einem Modell bevölkerten, computergenerierten Bilder von Markus Reck, stellen die Fotografien Beecrofts und Tunicks Momentaufnahmen minutiös geplanter, realer Körperarrangements dar. Die Arbeiten der Fotokünstlerin Claudia Rogge sind hingegen in ihrer komponierenden Arbeitsweise mit den Bildern Markus Recks in mehrerlei Hinsicht vergleichbar. Auch ihre Auseinandersetzung mit dem (teilweise) nackten, multiplizierten Körper spielt mit den Effekten optischer Verblüffungen und visueller Kongruenzen. Die Modelle werden jedoch in kein stringentes Raumgefüge eingegliedert, sie stehen im schwarzen Nichts, füllen als verschlungene Körpermasse die Bilder ganz aus, oder werden als ‚geklonte’ Einzelmotive nebeneinander gesetzt und dabei zu einem regelmäßigen Ornament verschmolzen.7

Offensichtlich können die engsten Bezüge zwischen den „Aktmultiples“ Markus Recks und den „Familienbildern“ Martin Liebschers gezogen werden, die der Berliner Fotokünstler seit 1993 produziert. In seinen Raumpanoramen setzt sich Liebscher dutzend- oder gar hundertfach8 selbst in Szene. Er allein ist immer sein einziges Modell9, Liebscher (re-)agiert in den groß angelegten Raumbildern mit und auf sich selbst. Der Künstler zeigt sich in der ganzen Bandbreite menschlicher Emotionen, ist Akteur und Zuschauermenge, Star und Publikum, und verbindet die multiplizierten Ansichten der eigenen Person zu einem Selbstporträtkaleidoskop. Dennoch zielen seine Fotoarbeiten nicht auf die Offenlegung einer pathologischen Persönlichkeitsspaltung, sondern auf die Vereinigung vieler „Ichs“ im Selbst, als eine „rechnerisch multiple Persönlichkeit, als Summe einer Mathematik des unberechenbaren Individuums“10. Die Bilder Liebschers gleichen denen Recks in ihrer höchst präzisen fototechnischen Übersetzung der digitalen Ausgangsbilder zu einem überzeugenden und gleichsam surreal-artifiziellen Gruppenbild eines Individuums. Während Liebschers theatralische Bilder die banalen oder tragischen menschlichen Abgründe aufzeigen, unzählige Varianten seiner eigenen und damit ‚aller’ Seinszustände auffächern, haben die „Aktmultiples“ von Markus Reck, bei all ihrer Vielschichtigkeit, immer einen kapriziösen Charakter. Als Akt des Spiels im Spiel des Aktes feiert der Fotograf die Lust am Sehen.

 

 

1 Vgl. KLUCKERT, Ehrenfried, Die Erzählformen des spätmittelalterlichen Simultanbildes, Tübingen 1974. ANDREWS, Lew, Story and Space in Renaissance Art. The Rebirth of Continuous Narrative, Cambridge 1995.

2 Vgl. LEHMANN, Ulrike, Der erfundene Zwilling und der Abschied vom Individuum als singulärem Selbst, in: Kunstforum international, 158, 2002, S. 156-175. Als früheste fotografische „Simultanbilder“ können die Bewegungsstudien von Etienne-Jules Marey gelten.

3 Vgl. URSPRUNG, Philip, Stillgestanden! Vanessa Beecrofts Bilder der Arbeit, in: JANECKE, Christian (Hg.), Performance und Bild, Performance als Bild, Berlin 2004, 304-335.

4 Vgl. AVGIKOS, Jan, Das Bild sprechen lassen, in: Parkett, 56, 1999, S. 112-116, hier: S. 114.

5 Anzahl von nackten Statisten für eine Installation am 6. Mai 2007 in Mexico City, Zócalo, MUCA/UNAM Campus, die dem bisherige Teilnehmerrekord für Tunicks Körperbilder entspricht.

6 Dieser aus unzähligen Einzelkörpern bestehende neue, von Tunick per Lautsprecher arrangierte Gesamtkörper evoziert in seiner Erscheinungsform Bilder der Konzeption des Staates, die Thomas Hobbes für den „Leviathan“ als Körper aus Körpern entworfen hat. Vgl. BREDEKAMP, Horst, Thomas Hobbes - Der Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder. 1651-2001, Berlin 2006.

7 Durch diese Eigenschaften stehen die Arbeiten Rogges anderen Werkgruppen Markus Recks näher, den ornamentalen„Akttapeten“ als auch den im ‚Nichts’ entstehenden „Akträumen“.

8 So etwa in seinem Familienbild “Frankfurter Börse”, 2003.

9 Beim Sony project 2002 auf der CeBIT in Hannover wurden experimentell auch Besucher von Liebscher in der „Mysliwska Bar“ in verschiedenen Ansichten fotografiert und zu einem „Familienbild“ zusammengefügt.

10 SPIEGL, Andreas, Das unberechenbare Individuum, in: LIEBSCHER, Martin, Liebscher Welt, Heidelberg 2002, o. S. Spiegl betont dabei die aus der Mehransichtigkeit der Figur resultierende Konsequenz einer Öffnung der Raumperspektive (während Recks Bilder einem zentralperspektivischen Raumverständnis zugrunde liegen): „Liebscher denkt auch hier wieder mathematisch, und verwandelt die verschiedenen und sukzessiven Perspektiven in eine Summe simultaner Wahrnehmbarkeit des Verschobenen: die Einbildung in eine Abbildung.“

 

 

Quelle: Rath, Markus, Bloß spielen. Die „Aktmultiples“ von Markus Reck, in: Ausst. Kat. akträume – fotografien von markus reck, hrsg. v. Die Zeitgenossen, Freiburg i. Br. 2009, S. 27-33.