Interviewing als poetische Bildformel

Peter Stephan

 

Das Verhältnis von Wort und Bild ist seit dem Horazischen Diktum des „ut pictura poesis et poesis pictura“ einer der wichtigsten Aspekte der abendländischen Kunsttheorie, da es den Dichter auffordert, so anschaulich wie ein Maler zu schreiben, und vom Maler verlangt, mit der Erzählfreude eines Dichters zu malen. Fassbar wird dieses enge Wechselverhältnis von Wort und Bild aber auch in dem Begriff „Interview“.

Nach heutigem Sprachgebrauch versteht man unter dieser Vokabel die Befragung durch einen Journalisten. Darüber hinaus kann man eine Unterredung oder ein Gespräch assoziieren. Die ursprüngliche französische Form entrevue umfasst indes mehr. Sie kann auch eine „Begegnung“, ein „Treffen“ oder eine „Unterredung“ bedeuten. Noch größer wird das Bedeutungsfeld, wenn man bedenkt, dass das französische entrevue seinerseits auf die Zusammensetzung zweier lateinischer Wörter zurückgeht: auf die Präposition inter („zwischen“, „inmitten“, „unter“, „gegenseitig“, „im Verlauf von“) und das Verb videre („sehen“, „betrachten“). Bezieht man diesen etymologischen Hintergrund in die Semantik ein, so meint „Interview“ auch eine Begegnung oder ein Gespräch zweier oder mehrerer Personen, wobei der Blick bzw. das Sehen und Gesehenwerden eine herausragende Rolle einnehmen. Sprechen und Sehen sind Teil ein und desselben Vorgangs.

Auf diese Vorstellung von Kommunikation als einem wechselseitigen Sehen und Sprechen wirft der Baden-Badener Fotograf Markus Reck im buchstäblichen Sinne einen ganz besonderen Blick, wobei er als Bildkünstler nur das Sehen und Gesehenwerden darstellt. Die Ebene der sprachlichen Kommunikation soll der Betrachter in seiner Phantasie nachvollziehen.

Ein erstes Beispiel ist der Zyklus „Akt-Multiples“. In ihm lässt Reck seine nicht professionellen Modelle nach deren freiem Ermessen reale Räume und Landschaften bespielen. Der Begriff "Multiple", der im Kontext der zeitgenössischen Kunst eigentlich Werke bezeichnet, die in hoher Auflage produziert werden, wird hier bewusst falsch (bzw. in einer anderen Bedeutung) verwendet: Ein Modell wird multipliziert, um sein Agieren im Raum als Simultanbild darzustellen. Das fertige Werk zeigt auf einen Blick die Auseinandersetzung des Modells mit der vom Künstler definierten Umgebung über einen längeren Zeitraum hinweg. Innerhalb dieses Konzepts hat „inter“ eine zeitliche Bedeutung. Es meint so viel wie „im Verlauf von“ oder „während“, wobei die verschiedenen Phasen des „inter“ im „videre“, d.h. in der optischen Erscheinung des Modells, nachvollziehbar werden.

 

Diese Phasen werden nun nachträglich zu einem einzigen Bild verdichtet. Die Folge ist, dass sich das Modell im Bild gleichsam selbst über den Weg läuft, sich selbst trifft, bisweilen sogar mit sich selbst in ein imaginäres Gespräch kommt, wobei sich dieses „Gespräch mit sich selbst“ natürlich vom „Selbstgespräch“, das immer nur in einem einzigen Augenblick geschieht, unterscheidet.

Diese „Interviews mit sich selbst“, für die das Bild ,Teatime Multiple‘ besonders beispielhaft ist, erweisen sich in mehrfacher Hinsicht als paradox: Entweder kommt es – wie in den von Einstein postulierten gekrümmten Räumen – zu einer ‚realen‘ Simultaneität ungleichzeitiger Ereignisse. Oder aber die „Interviews“ stehen für eine ‚imaginäre‘ Selbstbegegnung, die sich aus der Erinnerung oder dem Gedanken an die Zukunft ergeben. Dies bedeutet konkret, dass das Modell entweder an einer Stelle vorbeikommt, an der es schon einmal war: Es erinnert sich, dass es dort eine bestimmte Handlung vollzogen hat und reagiert nun auf diese Handlung. Oder das Modell stellt sich vor, was es tun wird, wenn es das nächste Mal an dieser Stelle vorbeikommt, d. h. es nimmt seine Zukunft vorweg. Sicherlich ist für den Betrachter nicht ersichtlich, welche Handlung zuerst stattgefunden hat, wann das Modell auf sich selbst reagiert oder wann es eine Reaktion provoziert. Vielmehr ist der Betrachter aufgefordert, beliebig viele Situationen zu konstruieren.

Versucht man, einige Situationen dieses „Interviewing“ zu verbalisieren, so sind mehrere Varianten des „Gesprächs mit sich selbst“ denkbar, wobei die zeitliche Logik permanent auf den Kopf gestellt wird: In der ersten Variante, in der Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart aufgehoben werden, könnte das Interviewing lauten: „Vorhin habe ich auf das geantwortet, was ich mir nachher sagen werde“ oder „nachher werde ich mir vorstellen, was ich vorhin getan haben möchte“. In der zweiten Variante, die auf die erinnerte Vergangenheit reagiert, könnte es heißen: „Ich höre gerade, was ich mir vorhin gesagt habe.“ In der dritten Variante, also in der vorweggenommenen Zukunft, könnte es hingegen heißen: „Nachher werde ich hören, was ich mir gerade sage.“

Natürlich lassen sich diese Spielarten erweitern. Das Modell kann sich nicht nur einmal, sondern auch zweimal wiederbegegnen: „Wenn ich an dieser Stelle ein drittes Mal vorbeigekommen sein werde, werde ich wissen, was ich mir gesagt habe, als ich das zweite Mal vorbeigekommen bin.“ Oder: „Jetzt, da ich an dieser Stelle ein drittes Mal bin, erinnere ich, was ich mir gesagt habe, als ich mir hier das erste Mal wiederbegegnete.“ Oder: „Wenn ich mich an dieser Stelle ein drittes Mal treffen werde, werde ich endlich erfahren, was ich mir nachher sagen werde.“ Nicht zuletzt kann das Modell sich selbst ins Gespräch bringen, von sich selbst „reden machen“. Es kann zu sich sagen: „Hast Du schon gehört, was Du vorhin über mich gesagt hast?“ oder: „Kannst Du Dir vorstellen, was ich mit mir tun werde, wenn ich mich nachher hier noch einmal treffe?“

Und natürlich können auch andere Situationen und Momente in das Gespräch mit sich selbst einbezogen werden. So kann das Modell, das sich im Vordergrund auf die Rückenlehne des Sessels stützt und nach links blickt, denken: „Meine Güte, da sitze ich noch immer mit meinem Nähkissen, anstatt wie vorhin, als ich auf dem Stuhl saß, ein Tässchen Tee zu trinken. Dafür werde ich mich nachher zum Lohn aufs Sofa setzen und mir ein Stück Kuchen gönnen.“

Eine radikale Zuspitzung erfährt diese Art des ‚Autointerviews‘ in einer zweiten Serie. Ebenfalls am Computer fügt Reck Ausschnitte aus Aktfotografien zu Ornamenten zusammen, anhand derer er die Bedeutung körperlicher Schönheit auf eine höchst originelle Weise thematisiert. Das Modell führt nicht mehr ein Interviewing mit verschiedenen Stadien eines Handlungs- oder Bewegungsablaufs. Vielmehr wird es in einer einzigen Haltung vervielfacht. Sodann geht es mit seinen Vervielfachungen eine Synthese ein, bei der es letztlich eine neue Identität erlangt. Ein Beispiel für diese Technik ist das Bild ‚Aktornament X‘. Wie in einem Kaleidoskop erfolgt die Multiplikation auf zweierlei Art und Weise: durch Spiegelung und durch Verdoppelung, wobei letztlich völlig unklar bleibt, ob eine Seitenansicht zuerst am Gesicht oder am Rücken gespiegelt wurde, ob also zwei Ansichten mit nach außen gewendeten Gesichtern oder ob zwei Ansichten mit einander zugewandten Gesichtern vervielfacht wurden. Ebenso ist unklar, aus wie vielen Einzelaufnahmen sich eine Seitenansicht letztlich zusammensetzt. Der Ablauf der Vervielfältigung ist nicht mehr rekonstruierbar. Noch mehr als im ‚Teatime Multiple‘ ist die Zeit als ein Faktor negiert.

In Bezug auf das Interviewing sind nun zwei Möglichkeiten denkbar: Stellt man sich vor, dass Reck als Grundfigur von zwei einander zugewandte Seitenansichten ausgegangen ist, so hat er ein In-sich-gekehrt-Sein multipliziert. „Inter“ hat nun die Bedeutung eines Reflexipronomens im Sinne von „einander“, oder „gegenseitig“. Geht man dagegen davon aus, dass Reck zwei auseinanderblickende Seitenansichten zugrunde gelegt hat, so handelt es sich um die Vervielfältigung einer inneren Abkehr von sich selbst. Nun hat das „inter“ die trennende Bedeutung von „dazwischen“. Durch die Aneinanderreihung im Kreis wird diese Abkehr von sich jedoch zwangsläufig auch zu einem Sich-wieder-Zuwenden, während das In-sich-gekehrt-Sein zur inneren Abkehr von sich selbst wird. Die Bedeutung von „inter“ changiert nun fortwährend von der verbindenden zur trennenden Funktion.

Dieser Kreislauf, der eine zwiespältige oder zumindest dualistische Auseinandersetzung des Objekts mit sich selbst in Gang setzt, führt zu einer totalen Abkapselung nach außen. Nun erlangt „inter“ die Bedeutung von „unter“ und „inmitten“. Diese totale Bezogenheit auf sich selbst bedingt den Identitätsverlust. Daher ist es nur folgerichtig, dass die einzelnen Fragmente des Modells – und auch hier können wir den Vergleich mit dem Kaleidoskop bemühen – ornamentalisiert werden. Die Körperteile werden zu stern- oder blütenförmigen Gebilden – man kann sogar eine exotische Frucht assoziieren. Zugleich verliert der Körper seine eigentliche Substanz – aus menschlichem Fleisch wird eine Art Frucht-Fleisch. 

Eine weitere Spielart des Interviewing zeigt ein dritter Zyklus. In ihm hat Reck die perfekte Mimikry bzw. Mimese von Insekten zum Thema gewählt. Das Bild ‚Orchideenmantis‘ zeigt einen Hymenopus coronatus, der sich der Pflanze, auf der er sich niedergelassen hat, so angeglichen hat, dass er von anderen Tieren nicht mehr wahrgenommen werden kann. Im Unterschied zu den beiden anderen Bildern führt das ‚Modell‘ in den Fällen, in denen eine Pflanze nachgeahmt wird, das Interviewing nicht mit sich selbst. Vielmehr sind andere Partner involviert. Der erste Partner ist gleichsam die Pflanze, der das Tier sich angleicht (Phytomimesis). Der zweite Partner ist der Feind, vor dem es sich versteckt, der dritte das Beutetier, das nicht verschreckt werden soll. Stets geht die Kommunikation (wörtlich: „Vergemeinschaftung“) mit der Pflanze so weit, dass es zumindest optisch zu einer völligen Vereinigung kommt, das Tier von der Pflanze also nicht mehr zu unterscheiden ist. Durch diese totale Kommunikation mit der Pflanze entzieht sich die Orchideenmantis dem Gesehenwerden durch andere Tiere. Dieser Zustand verhält sich komplementär zu jener Situation, in der wir einer Person gegenüber sitzen, die sich einem Gespräch mit uns entzieht, weil sie bereits ganz durch das Gespräch mit einer dritten Person absorbiert ist. Der Unterschied besteht nur darin, dass das „viewing“ im Fall der Orchideenmantis wirklich die Bedeutung von „sehen“ bzw. von „erkennen“ und nicht von „sprechen“ hat. Mit anderen Worten: wegen der Steigerung des „inter“ ins Extreme, findet ein „videre“ nicht mehr statt.

Durch die unterschiedliche Auslegung der Komposita „inter“ und „viewing“ (bzw. „videre“) und der damit verbundenen Variierung zeitlicher und körperlicher „Sicht“-„Beziehungen“ ist es Reck auf eine höchst eindrucksvolle Weise gelungen, das Wechselverhältnis von Wort und Bild, von „poesis“ und „pictura“ neu durchzuspielen. Auf eine sich ständig ändernde Art und Weise wird bei ihm das Bild zur Poesie.

 

Peter Stephan schloss sein Studium der Alten Geschichte, Christlichen Archäologie und Kirchengeschichte in Freiburg und Heidelberg 1990 mit dem Magister ab. Danach studierte er klassische Archäologie und Kunstgeschichte in Würzburg und Freiburg. 1996 promovierte er über die Tiepolofresken in der Würzburger Residenz. Es folgten mehrere Forschungsprojekte sowie eine umfangreiche Lehrtätigkeit im In- und Ausland. 2006 habilitierte sich Peter Stephan im Fach Kunstgeschichte. Seither lehrt er an der Universität Freiburg als Privatdozent.

 

 

Quelle: Stephan, Peter, Interviewing als poetische Bildformel, in: Ausst. Kat. dieInterview - zwischen Frage und Antwort, hrsg. v. KunstLeben e.V. Hamburg, kulturreich Galerie, Hamburg 2010, S. 18-23.