Veronika - eine Bildgeschichte. Oder: Was Bilder uns erzählen können

Ein philosophischer Essay von Daniel Tischer

 

Der Tag begann gerade der Nacht zu weichen, als sich Bob zu seinem Freund Peter aufmachte. Dieser war vor kurzem aus Bolivien zurückgekehrt und hatte zu einem Dia-Abend eingeladen. Innerlich zerrissen, mit einer Flasche Rotwein in der Hand, hätte Bob sich dem Ereignis gerne durch einen Telefonanruf entzogen. Zu viele Abende waren es schon gewesen, die er mit dem Betrachten von Urlaubsbildern zugebracht hatte. Zu viele Abende in seinem Leben, an denen konservierte Erlebnisse eines Anderen in der Chronologie ihres Sich-Ereignens, eingereiht in ein Diamagazin, im Lichtkegel des Projektors durch den abgedunkelten Raum an ihm vorbeigezogen waren: Konserven von Eindrücken, die durch die Kamera verzweifelt versucht wurden festzuhalten. An der Tür wurde er freundlich begrüßt, man nahm ihm die Flasche Wein ab, um sie sogleich geöffnet ins Wohnzimmer zu bringen, wo er sich auf dem Sofa niederließ. Zu seiner Überraschung wurde ein Laptop an den Fernseher angeschlossen. Man konnte den Sonnenuntergang durch das geöffnete Fenster beobachten, während in schneller Abfolge die festgehaltenen Eindrücke von La Paz an den versammelten Gästen vorbeizogen. Als die letzten Sonnenstrahlen der Nacht wichen, wurden sie mitgenommen auf einen Roadtrip ins Valle de Luna und sahen einige Erinnerungen an die flüchtigen Bekanntschaften, die man auf einer solchen Tour macht. Besonders gefiel Bob das Portrait eines Mädchens, welches, wie er glaubte, zwischen all den Shermans, Ruffs und Gurskys im Museum nicht als das Produkt einer gelungenen Urlaubserinnerung von jemandem aufgefallen wäre, der zufällig seinen Mac zu bedienen weiß und den Auslöser seiner Kamera findet. Er musste an Gödel, Escher und Sachs denken, und dass Rückkopplung und Selbstbezüglichkeit die Basis allen Wissens und Könnens sei. Alle Anwesenden waren sichtlich beeindruckt von der Präsentation. Vor allem die junge Spanierin, die neben ihm Platz genommen hatte und noch immer unbewegt mit verträumten Augen in den Raum hineinblickte. Erst nach einigen Minuten bemerkte sie, dass sie von ihm beobachtet wurde.

 

Veronika: Was schaust Du mich so an? Willst Du nicht der Einfachheit halber lieber ein Foto von mir machen? Das kannst Du immer mit dir herumtragen, hervorkramen und anglotzen!

 

Bob: Entschuldige, aber auf gewisse Art mache ich das gerade.

 

Veronika: Heißt es nicht, Du sollst dir kein Bildnis machen?

 

Bob: Ja, dass heißt es wohl, aber die Welt erscheint uns nun einmal in Bildern. Und brauchen wir nicht Bilder, um uns unsere Umwelt anzueignen, damit wir uns in ihr zurecht finden?

 

Veronika: Vielleicht, doch wie verhält es sich mit diesen Bildern? Lassen uns diese Duplikate der Wirklichkeit nicht diese als verfügbarer erscheinen als sie ist?

 

Bob: Das hängt davon ab, wie ich das gemachte Bild meiner Umwelt für mich bewahre. Bewahre ich es als Fetisch, als Erinnerung oder als einen flüchtigen Augenblick, der in meiner Erinnerung als Bild soweit verblasst, bis er letztlich nur noch als ein wohliges oder auch unwohliges Gefühl in mir ruht?

 

Veronika: Und wie bewahrst Du nun dein gerade gemachtes Bild von mir?

 

Bob: Bevor ich mich durch meine Aussage kompromittiere, will ich versuchen, dir anhand der Fotografie meinen Standpunkt zu erläutern.

 

Veronika: Nun gut, dann fang mal an.

 

Bob: Susan Sontag hat einmal gesagt, Fotografieren heißt Bedeutung verleihen.

 

Veronika: Ja, und dabei plündert und bewahrt, verurteilt und verklärt der Fotograf sein Objekt.

 

Bob: Ist es wirklich der Fotograf, der dies tut oder ist es nicht eher der Rezipient?

 

Veronika: Der Rezipient kann nur versuchen, mit dem umzugehen, was ihm durch die immer weiter zunehmende Bilderflut vor die Füße geworfen wird. Und je mehr Bilder im Umlauf sind, desto mehr stumpfen wir ab. Durch die Fotografie verliert die Realität immer mehr an Bedeutung.

 

Bob: Ich glaube nein: Die Bedeutung wird eine andere. Als es 1839 Daguerre und Talbot gelang, einen Ausschnitt der Welt mittels Kochsalzlösung auf ein Stück Papier zu fixieren, fingen sie eine Zeitspanne ein, die dem eigentlichen Moment - wenn man hier überhaupt von Moment sprechen kann - geklaut wurde und so manch rastlosen Zeitgenossen, der Besseres zu tun hatte, als 30 Minuten oder länger still zu halten, wahrscheinlich zur Verzweiflung gebracht hat.

 

Veronika: Das ist sehr verkürzt dargestellt oder besser: einfach falsch. Auch wenn man 1839 als gesetztes Datum der Geburtsstunde der Fotografie nachlesen kann, denn da verwendete Maedler erstmals diesen Begriff, dauerte es noch einige Jahre, bis man Fotos auf Papier fixieren konnte. Zudem standen sich Daguerre und Talbot nicht so nahe, wie es deine Aussage glauben macht. Daguerre verwendete 1837 ein Verfahren, in dem Fotos mit Hilfe von Quecksilber-Dämpfen und anschließender Fixierung, wie Du richtig sagtest, mit einer heißen Kochsalzlösung auf einer Kupferplatte aufgetragen wurden. Durch dieses Verfahren konnte die Belichtungszeit bereits auf einige Minuten verkürzt werden. Talbot erfand 1835 das Negativ-Positiv-Verfahren. Während Daguerre mit seinem Verfahren nur Unikate herstellen konnte, ermöglichte Talbots Erfindung die Reproduktion des Abgelichteten.

 

Bob: Das wusste ich nicht. Es wäre sicherlich interessant die durch Talbots Erfindung geschaffene Möglichkeit der Reproduktion weiter zu verfolgen, aber mir geht es mehr um das technische Verfahren als solches. Plötzlich war es nicht mehr die Erinnerung eines Malers und das ständige Abgleichen mit dem Modell was zu einem Portrait führte, sondern der technische Apparat.

 

Veronika: Und dieser Apparat war und ist es, der Produkte erschafft, die bedeutsam werden?

 

Bob: Ja, bedeutsam waren diese ersten Bilder, aber die Bedeutung der Bilder ändert sich ja nicht mit der Geschichte der Fotografie, sondern in der Geschichte ihrer technischen Realisierbarkeit und den Möglichkeiten ihrer Verbreitung, die durch die Fotografie geschaffen wurden.

 

Veronika: Das ist sicherlich richtig. Heute ist es viel einfacher ein Foto zu machen und zu verbreiten als damals. Aber was macht das für einen Unterschied? Der Vorgang ist und bleibt der gleiche. Nur dass er heute täglich millionenfach wiederholt wird und ein und dasselbe Ereignis in unterschiedlichen Sichtweisen festhält. So wie Du ein anderes Bild von mir haben wirst, als es meine Eltern oder mein Freund haben.

 

Bob: Ich glaube, dass es genau der Vorgang ist, der sich geändert hat und mit ihm auch die Sichtweise oder besser das, was gesehen und wie es gesehen wird. Mit dem Siegeszug der digitalen Fotografie änderte sich grundlegend der Selektionsprozess in Bezug auf das Abzubildende. Wo früher noch das Abwägen des Fotografen über die Wahl des Bildausschnittes vor dem Drücken des Auslösers stand, ist heute durch das Vorhandensein schier unerschöpflicher Datenkapazitäten dieser Prozess hinter das Entstehen des Fotos in die post-production gerückt. Die Produkte eines seriellen Entstehens werden nach dem Spanien- oder Bolivienurlaub einem Selektionsprozess unterworfen, um die entstandene Bilderflut auf ein erträgliches Maß für die an dem post-vacation Abend teilhabenden Daheimgebliebenen einzugrenzen. Die bei diesem Selektionsprozess herausgefilterten Bilder lassen sich dann in drei Gruppen einteilen. Zum einen in die der persönlichen Erinnerung, zum anderen in die eines Ereignisses sowie in die, die durch ein - oftmals nicht weiter reflektiertes Geschmacksurteil - als gelungen empfunden werden.

 

Veronika: Und die Fotos von Ereignissen sind es dann, die uns dieses eine Ereignis in unendlichen Ansichten sehen lassen, bis das Ereignis als solches durch die Wiederholung der Schöpfung im Bild durch ein technisches Abbild ersetzt ist.

 

Bob: Wohl eher die Verfügbarkeit dieser Ansichten. Anfangs durch das Fernsehen und heute durch ein immer leistungsfähiger werdendes Internet und den damit einhergehenden Möglichkeiten, die dort veröffentlichten Inhalte bildlich zu vermitteln. Aber das Ereignis oder die persönliche Erinnerung werden durch das Bild, für den, der nicht bei der Entstehung zugegen war, alleine nicht vermittelt.

 

Veronika: Du meinst den Text oder die Sprache, die die Absicht haben, die Bilder zu erklären, also das, was Flusser als den Metacode der Bilder bezeichnet hat?

 

Bob: Ja, die Bedeutung des Bildes ist eigentlich eine Synthese zweier Intentionen. Zum einen die, die sich im Bild manifestiert, und zum anderen die des Betrachters, welche aber allzu oft durch einen Bedeutung verleihenden Text ersetzt ist.

 

Veronika: Wodurch dann die Synthese, die dem Bild als Bild eine Bedeutung verleiht, nicht mehr zustande kommt.

 

Bob: Und mehr noch, so dass das Bild als Vermittler zwischen Welt und Mensch, diesem diese nicht mehr vorstellt, sondern verstellt.

 

Veronika: Diese Bilder werden durch den Text selbst zu einem Ereignis und bekommen dadurch ihre eigene Geschichtlichkeit. Wie entstehen dann die Fotos, die zwischen Welt und Mensch vermitteln?

 

Bob: Durch den, der sie macht.

 

Veronika: Aber der, der das Bild macht - der Fotograf - ist ja selbst geschichtlich.

 

Bob: Jedes Bild bedarf eines Menschen, der auf den Auslöser drückt und damit den jeweiligen Moment zu einem einzigartigen macht. Früher zeichnete sich ein guter Fotograf dadurch aus, dass er den Apparat, den er bedient, quasi überlistete, indem er bereits bei seinem Blick durch das Objektiv diesem seine Unschuld nahm, indem er die Wahrnehmung bereits auf die zwei Dimensionen der Fläche abstrahierte. Gelingt dies dem Fotografen nicht, so erschöpft sich die am Foto zu machende Seh-Erfahrung in den beiden Dimensionen der bloßen Fläche, die mit einem Blick zu erfassen ist. Gelingt es ihm, so kann der Betrachter, wenn sein Blick über das Foto wandert, auch die verborgenen Dimensionen von Raum und Zeit rekonstruieren. Bei diesen Blicken springt der Blick immer wieder zwischen verschiedenen, für den Betrachter oder in der Bildstruktur vorhandenen, signifikanten Punkten, wobei der Blick immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren kann und es so zu einer ewigen Wiederkehr des Gleichen kommt.

 

Veronika: Und dann das Überbild entsteht…

 

Bob: So weit würde ich nicht gehen wollen, aber wenn wir die ewige Wiederkehr als einen zyklischen Vorgang verstehen - für dessen Beschreibung Rudolf Clausius den Begriff der Entropie einführte - wird deutlich, dass das Bild uns die Möglichkeit gibt, etwas Gesehenes anders zu sehen. Wenn sich unser Blick über das Bild bewegt, dann ist der Weg zurück zum bereits Gesehenen niemals der gleiche, da sich durch das auf dem Weg Wahrgenommene, die Wahrnehmung des zuvor Wahrgenommenen bereits gewandelt hat.

 

Veronika: Du meinst also, dass ein Foto unseren Blick auf die Welt verändern kann. Aber wir lassen einen solchen Blick ja meist nicht mehr zu, da uns immer und überall Bilder begegnen.

 

Bob: Da die Fotografie selbst geschichtlich ist und sich ihre Vergangenheit mit der Gegenwart immer wieder aufs Neue versöhnt, muss sie sich in ihrer eigenen Gegenwart immer wieder neu erfinden.

 

Veronika: Durch unsere gesammelten Seh-Erfahrungen sehen wir ein Foto von 1900 heute anders, als die Menschen damals. Also müssen wir die Geschichte des Sehens betrachten, damit wir verstehen, warum wir heute ein Bild so sehen, wie wir es sehen?

 

Bob: Ich glaube wir können viel an ihr lernen, aber sie vermag nicht zu erklären, was ich heute für ein Bild von dir habe. Wenn ich mir ein Bild von etwas mache, dann tue ich dies schon immer mit meinen kulturell vermittelten Seh-Erfahrungen, gehe aber - bewusst oder unbewusst - zugleich darüber hinaus. Das Foto ist ja immer mehr als nur ein Abbild, es trägt das Potential des technischen Verfahrens in sich, welches die Ablösung des Gesehenen vom subjektiven Akt des Sehens bewirkt.

 

Veronika: Das haben wir ja bereits festgestellt als wir sagten, dass uns Fotos die Welt anders sehen lassen.

 

Bob: Aber wir haben dabei das technische Verfahren außer Acht gelassen.

 

Veronika: Also dass die Möglichkeiten, die im technischen Verfahren liegen, uns mehr über unser Bildersehen lehren können als das Sehen?

 

Bob: Nein, aber es lässt es uns besser erklären. Ich glaube, dass sinnliche Erfahrungen personale Erfahrungen sind, die man nicht an jemanden vermitteln kann, der diese nicht schon selbst gemacht hat.

 

Veronika: Dies scheint mir so zu sein. Ich muss selbst schon Freude, Trauer, Sehnsucht oder anderes erlebt haben, um es zu verstehen. Aber ich verstehe nicht, wie ich solche Erfahrungen besser oder anders verstehen könnte, wenn ich etwas über die technischen Möglichkeiten verstehe.

 

Bob: Auch Zeit und Raum nehmen wir sinnlich wahr. Wenn ich zu verstehen versuche, wie diese in einem Bild ihre Wirkkraft entfalten, dann scheint mir der Zugang sinnvoll. Der Fotovortrag heute hat mich zum Beispiel durch die Art, wie er technisch präsentiert wurde, das, was Peter erlebt hat, anders sehen lassen, als ich es in unzähligen anderen Dia-Abenden zuvor gesehen habe. Durch die Rückkopplung, die das Display der Kamera liefert, und die Möglichkeit der Selektion haben wir spannende Bilder gesehen, die uns ebenso spannend präsentiert wurden, aber dennoch reiht sich das heute Gesehene in unsere gegenwärtigen Seh-Erfahrungen ein.

 

Veronika: Und was meinst Du genau mit der Rückkopplung durch das Kameradisplay?

 

Bob: Die Digitalfotografie gibt uns neben der Möglichkeit einer inflationären Bildproduktion auch die Möglichkeit, den gewählten Bildausschnitt bereits in einer Vorschau auf dem Display zu betrachten. Die Abstraktion des vor der Kamera Gesehenen ist nicht mehr nötig. Allein die Seh-Erfahrungen und deren Abgleich mit dem auf dem Kamerabildschirm Abgebildeten reichen aus, das vor der Kamera Gesehene in einen Kontext zu stellen, der das „Warum“ des Bildes im Bild selbst zu erklären vermag.

 

Veronika: Also ist heute eigentlich jeder in der Lage ein guter Fotograf zu sein und künstlerisch gute Bilder zu erstellen.

 

Bob: So einfach ist es wohl nicht. Der Amateurfotograf, der sich dessen bedient, weiß nur die ihm durch Massenproduktion verfügbaren Güter und die durch die Kulturindustrie gelehrten Seh-Erfahrungen umzusetzen. Die Kunst hingegen, die schon immer versucht hat, die fortschrittlichsten Verfahren der materiellen Produktion und ihrer Organisation zu nutzen, hat sich nie auf den Bereich beschränkt, dem sie unmittelbar entspringt, sondern immer versucht, über diesen hinaus zu gehen.

 

Veronika: Du glaubst also, dass die Ausstrahlung, die ein Foto hat, mit den genutzten Mitteln der technischen Produktion zusammenfällt?

 

Bob: Das würde ich behaupten. Wenn man sich Man Rays „Violon d`Ingres“ anschaut, so ist es, wie ich glaube, die Montage, die das Bild zu einem besonderen Bild werden lässt. Erst durch die arabesken Schalllöcher auf dem Rücken der Frau bekommt das Bild seine Bedeutung.

 

Veronika: Die Montage wäre dann das, was über die Fotografie immanent hinausgeht, ohne in diese selbst einzugehen. Das Bild gibt damit seine Produktionsspuren frei. Aber nicht jedes Bild ist eine Montage.

 

Bob: Ich glaube, dass ein gutes Bild immer aus verschiedenen Bild- und Handlungsinhalten aufgebaut sein muss, damit es uns etwas erzählen kann. Da liegt dann die Montage schon vor dem Entstehen des Bildes in der Hand oder im Auge des Fotografen, welcher über das Potential dessen, was er im Bild ausdrücken möchte, entsprechend reflektiert ist.

 

Veronika: Und wie verhält sich dies dann bei der Gegenwartsfotografie, die wir in Ausstellungen und Museen betrachten können?

 

Bob: Gerade in der Digitalfotografie ist die Möglichkeit der Montage evident. Jeder einzelne Pixel ist wie der einzelne Stein in einem Mosaik und kann am Computer beliebig verändert werden.

 

Veronika: Es bedarf also immer der digitalen Nachbearbeitung, damit ein Bild heute noch in ein Museum gelangen kann?

 

Bob: Sagen wir mal so, die digitale Nachbearbeitung bietet die Möglichkeit, das Gesehene anders sehen zu lassen, als es ist, und bietet damit dem Betrachter die Chance, den Produktionsprozess nachzuvollziehen.

 

Veronika: Wenn man sich die aktuelle Fotokunst in den Museen anschaut, dann kann man dies sicher an vielen Werken beobachten, doch scheint es mir nur ein Grund unter anderen zu sein.

 

Bob: Sicher gibt es auch andere, doch scheint mir dieser signifikant.

 

Veronika: Du denkst, sobald der Produktionsprozess klar zu Tage tritt, lässt dieser das Bild nicht mehr als ein Abbild der Realität erscheinen?

 

Bob: Ja, das Bild zeigt, dass es ein gemachtes ist.

 

Veronika: Geht durch diese Brüche, die in der Montage des Bildes zu Tage treten, nicht die subjektive Erfahrungseinheit verloren?

 

Bob: Mit Adorno würde ich sagen, dass die Fotografie erst da zur Kunst wird, wo sie den Bruch eingesteht und in ästhetische Wirkung umfunktioniert. Unverbundenes wird durch die übergeordnete Instanz des Ganzen zu etwas gefügt, was zu einem neuen Sinnganzen wird.

 

Veronika: So positiv wie bei dir klingt es bei Adorno ja nicht gerade.

 

Bob: Ich denke, dass der Bruch positiv zu sehen ist, denn dieser tritt in einem Bild ja dort auf, wo sich etwas unseren Seh-Erfahrungen widersetzt, also an den Stellen, an denen unser über das Bild wandernder Blick hängen bleibt.

 

Veronika: Die Brüche sind es also, an denen sich uns etwas in einem Bild zeigt. Wenn wir nur dort mit unseren Blicken hängen bleiben, so können wir auch sagen, dass jeder Bruch auf den anderen verweist. Zudem sind wir angehalten, wo sich das Gezeigte unserer Seh-Erfahrung widersetzt, über das Gesehene nachzudenken.

 

Bob: Das scheint mir wahrscheinlich.

 

Veronika: Aber wie verhält es sich dann mit solchen Bildern wie dem der jungen Frau, das wir zuvor gesehen haben, und welches dir sichtlich gefallen hat? Ich kann in diesem Bild keinen Bruch und keine Montage erkennen, aber doch geht ja von diesem Bild etwas aus.

 

Bob: Ich fühle mich beobachtet.

 

Veronika: Vielleicht.

 

Bob: Ich muss gestehen, jetzt hast Du mich eiskalt erwischt. Wie gerne würde ich jetzt an dem Bild nachweisen, dass es konstruiert ist, aber es entzieht sich jedem Versuch. Es ist einfach nur schön und ich kann dir nicht sagen, warum ich so empfinde.

 

Veronika: Es gehört wohl zu den großen Paradoxien der jüngeren Moderne, dass das Schöne überall sein darf, außer in der Kunst, die sie - nach Schillers „Nänie“ - über die Zeiten zu bewahren doch einst angetreten war. Und nun findest du das Schöne ausgerechnet dort wieder.

 

Bob: In Zeiten, in denen jeder schöne Körper dank der modernen Chirurgie von sich aus schon unter Montageverdacht steht, fällt es mir schwer.

 

Veronika: Aber auf einen Versuch sollte es ankommen. Denn die Bilder, die sich einer Konstruktion entziehen, scheinen auf den ersten Blick zu erklären, was Du zuvor versuchtest zu verdeutlichen.

 

Bob: Es widersetzen sich mir zwei Sichtweisen: Zum einen die der Grundkategorien der Darstellung, also Bedeutung, Begriff und Idee, und zum anderen das Schönheitsdenken der Antike, wo es um die Beschaffenheit des menschlichen Körpers ging und die Lust und Erotik, die man bei dessen Anblick verspürte.

 

Veronika: Dann müsste es doch gerade das Schönheitsdenken der Antike sein. Wenn es dort, wie Du sagst, um die Beschaffenheit, also die Symmetrie und Harmonie geht, liegt dem ja schon eine Konstruktion zugrunde.

 

Bob: Nur scheinbar, denn sie steht in keinerlei Beziehung zum Nutzen. Heute, wo wir in Hochglanzmagazinen und digital nachbearbeiteten Filmen mit einem idealisierten Bild von Schönheit konfrontiert werden, ist es gerade dieses, welches für die Verblendung in der Bildwahrnehmung des kollektiven Bewusstseins verantwortlich ist.

 

Veronika: Ist dies nicht das, was ich sagte?

 

Bob: Ja, aber das idealisierte Foto im Hochglanzmagazin ist nach einem durch den Markt diktierten Schema nachgestellt.

 

Veronika: Es konstruiert also etwas nach, so wie es schon einige Digitalkameras der neusten Generation tun, die ihrem Anwender vorgeben, wie man nach den bestehenden Seh-Erfahrungen sein Bild zu konstruieren hat, während die Fotografien, an denen man neue Seh-Erahrungen gewinnen kann, etwas vorstellen. Wie verhält es sich nun mit der Schönheit in der Antike?

 

Bob: Auch wenn die griechische Mythologie voll von schönen Menschen war, so war die Schönheit immer eine angehängte, die mit anderen Tugenden zu konkurrieren hatte. Es gibt lediglich Zwei, von denen die griechische Mythologie zu berichten weiß, sie wären vollkommen eigenschaftslos schön gewesen. Narziß und Adonis. Beide durch Inzucht gezeugt, wird der Eine zwar von allen begehrt, er selbst aber begehrt nur sich selbst beziehungsweise sein Simulacrum, während der Andere, der das Sinnbild der Schönheit selbst ist und als solches ein Simulacrum des Schönen zwar von Aphrodite geliebt wird, aber die Liebe als solche bleibt unerfüllt.

 

Veronika: Die Schönheit beider wäre demnach nur ein trügerischer Schein.

 

Bob: Man kann ihre Schönheit auch positiv als eine produktive Fantasie verstehen.

Veronika: Damit wäre das Schöne dann ein durch das eigene Begehren konstruiertes Bild.

 

Veronika unterbrach das Gespräch, um aus ihrer Tasche einen länglichen Ausstellungskatalog hervorzuholen.

 

Veronika: Ich war heute in einer Fotoausstellung. Vielleicht helfen uns die hier abgebildeten Fotografien weiter. Zum Beispiel dieses Ornament

hier. Gefällt es dir?

 

Bob: Ich brauche einen Moment, um es zu verstehen ..... sehr schön. Besonders spannend, dass hier der künstlerische Ausdruck nicht mehr nur Beiwerk ist, sondern für sich steht.

 

Veronika: Ja, besonders gefällt mir daran, dass die Fotografie, wenn man sie als eine Abbildung der Wirklichkeit versteht, vollkommen negiert wird.

 

Bob: Dabei plündert und bewahrt, verurteilt und verklärt der Fotograf sein gefundenes Objekt.

 

Veronika: Das sagst Du?

 

Bob: Nein. Ich glaube eher, dass hier der Fotograf dem Objekt Bedeutung verliehen hat.

 

Veronika: Und wie?

 

Bob: Vielleicht eher wodurch. Die Aura, die das abgelichtete Objekt umgibt, fließt vollständig in die technischen Möglichkeiten der Pixelverschiebung ein. Die daraus konstruierte Einheit sorgt dafür, dass das abgelichtete Objekt keinem vorgestellten Ideal mehr entspricht, sondern selbst zum Ideal wird, welches als Symbol stellvertretend für das Schöne oder Gefällige steht.

 

Veronika: Mir scheint doch eher, dass es sich an einem bereits bestehenden Symbol, dem Kreuz, orientiert.

 

Bob: Wenn dem so wäre, wo läge dann die Bedeutung?

 

Veronika: Hmm.

 

Bob: Ich glaube, dass man an dem Ornament den Ursprung von dem festmachen kann, was ein Bild ausmacht. Durch das Zusammengeworfensein des Auratischen - also was von dem Abzubildenden ausgeht - sowie des Technischen und Handwerklichen - das, was die Darstellung betrifft - findet eine Vermittlung zwischen dem konkret Vorgefundenen und der Unendlichkeit seiner möglichen Darstellungsweisen statt.

 

Veronika: Also Du denkst, dass das Ornament stellvertretend für die unerschöpflichen Ausdrucksformen der Kunst steht. Was wird dann deines Erachtens durch dieses Ornament konkret ausgedrückt?

 

Bob: Das Symbol besitzt als solches ja keine Identität, auch wenn wir ihm gerne eine solche zuschreiben würden. Wenn ich dieses Ornament betrachte, dann finde ich in ihm einen unerschöpflichen Reichtum. Würde man dem Ornament etwas nehmen oder hinzufügen, so würde es alles an seiner Schönheit einbüßen. Denkt man an das Ornament in der Verhaltensbiologie, wo es Körpermerkmale bezeichnet, die bei der Balz eine Rolle spielen wie Farben, Muster oder vergrößerte Strukturen, so wird deutlich, dass in dem Ornament alles zum Tragen kommt, was in dem Vermögen des Künstlers zum einen sowie des Betrachters zum anderen liegt.

 

Veronika: Wie meinst Du das mit dem Vermögen des Betrachters?

 

Bob: Ich glaube nicht, dass sich ein Ornament in seiner Betrachtung jemals erschöpfen kann. Der Betrachter kann immer nur das in ihm sehen, was er beim Betrachten an Seh-Erfahrungen mitbringt.

 

Veronika: Und wenn Du auf das Ornament in der Verhaltensbiologie verweist, dann meinst Du, dass das Ornament mit allen im Vermögen der Kunst liegenden Möglichkeiten wirbt, um zu gefallen.

 

Bob: Ich denke, dass dem so ist.

 

Veronika: Ich werde einmal darauf achten. Was hältst Du denn von diesem Multiple?

 

Bob: Ja, sehr spannend. Das Bild geht sogar noch über das zuvor Gesagte hinaus. Nicht nur, dass die Montage der immer gleichen Person in das Bild, dieses als ein gemachtes erscheinen lässt, zugleich hinterlässt es dadurch auch eine Spur seines Entstehens.

 

Veronika: Wie meinst Du das?

 

Bob: Dadurch, dass es sich nicht nur um eine Aufnahme handelt, in die die abgebildete Person mehrfach hineinmontiert wurde, sondern auch um eine Akkumulation unterschiedlicher Momente, fügen sich unterschiedliche Zeitebenen zusammen.

 

Veronika: Aber die zeitliche Chronologie lässt sich an dem Bild nicht mehr ablesen.

 

Bob: Das konnte man an den ersten Fotografien auch nicht unbedingt und doch wissen wir aus unserer Erfahrung, dass es so gewesen ist.

 

Veronika: Und doch haben sich die Vorzeichen geändert: Wollte man damals einen Moment festhalten, der als solcher keiner war, so wird hier eine Zeit festgehalten, die durch das Medium bedingt keine ist.

 

Bob: Ich glaube, der Montage liegt immer auch eine Zeitlichkeit zugrunde. Durch die Filmmontage können wir eine Zeitspanne nacherleben, die die reale Zeit weit übertrifft.

 

Veronika: Aber der Film bleibt in seiner Chronologie verhaftet, egal ob die gezeigte zeitliche Abfolge durchbrochen wird oder nicht. Der Film selbst ist schon als Zeit-Erfahrung angelegt.

 

Bob: Das ist ein Bild auch. Ein Film besteht zwar auch aus Einzelbildern, aber diese bleiben bedingt durch ihre schnelle Abfolge als solche oberflächlich und bilden erst in ihrer Abfolge die Dimensionen von Zeit und Raum aus.

 

Veronika: Dem Fotografen oder besser dem Digital Artist ist es hier also gelungen, das raum-zeitliche Geschehen so in den zwei Dimensionen des Bildes festzuhalten, dass die Spuren des Entstehens beim Lesen des Bildes wieder hervortreten.

 

Bob: Lesen gefällt mir.

 

Veronika: Es unterstreicht die Zeitlichkeit. Findest Du das Bild schön?

 

Bob: Ja, die Bildmontage als Ganze empfinde ich als schön. Vielleicht weil die Einzelteile sich zu einem harmonisch Ganzen fügen.

 

Veronika: Und wie steht es mit der Schönheit?

 

Bob: Auch die begegnet mir hier, aber nicht im Bild als solchem, sondern in den einzelnen Momenten.

 

Veronika: Wie meinst Du das?

 

Bob: Überall dort, wo mein Blick an einer Stelle hängen bleibt, wo sich die einzelnen Bildmomente zusammenfügen, dort, wo ein Bruch ist, meine ich, Schönheit wahrzunehmen.

 

Veronika: Also bei den einzelnen Körpern.

 

Bob: Ja.

 

Veronika: Aber kannst Du daran dann auch eine Erfahrung des Schönen selbst machen?

 

Bob: Ich glaube schon. Wenn mein Blick über die Oberfläche streift, um dem Bild ein Sinnganzes zu geben, dann erhascht mein Blick nur die einzelnen Körper, ohne sie dabei auf ihre reine Körperlichkeit zu reduzieren und sie damit aus dem Gefüge zu reißen. Sie ziehen mich in ihren Bann und will ich sie mit meinem Blick fixieren, sind sie oft schon am Verblassen. Sie sind wie Baudelaires Epiphanien, diese flüchtigen Erscheinungen schöner Frauen in den Straßen von Paris, die in uns noch einen Nachklang haben, wenn sie längst aus unserem Blickfeld verschwunden sind.

 

Veronika: Und was bedeutet dies nun für das Bild?

 

Bob: Es sind nicht die schönen Körper, die hier im Bild festgehalten werden, sondern dieser Blick, der so flüchtig über sie streift. Das, was schon Cézanne in seinen Bildern realisiert, wenn er den alten perspektivischen Bildraum auflöst und das Unsichtbare, das Außen des Bildes - den Blick - zur Erscheinung bringt...

 

Als sich die Wege der beiden trennen, ist es das Bild des Mädchens, das verträumt in die Leere blickt, welches als vera icon in Bobs Erinnerung bleibt - mehr nicht.

 

 

Quelle: Tischer, Daniel, Veronika – eine Bildgeschichte. Oder: Was Bilder uns erzählen können, in: Ausst. Kat. akträume – fotografien von markus reck, hrsg. v. Die Zeitgenossen, Freiburg i. Br. 2009, S. 7-20.